... und dann kamen die Barbaren !
Plädoyer für eine behutsame Modernisierung des Bahnhofsareals in Radolfzell
Im August 1975 kam ich zum ersten
Mal nach Radolfzell, die Stadt, wo ich seitdem wohne.
Zuerst als Student an der
Konstanzer Universität, dann als Lehrer und dortiger Lehrbeauftragter benutzte
ich täglich für die nächsten 30 Jahre den Zug zwischen Radolfzell und Konstanz.
Den Radolfzeller Bahnhof habe ich immer schöner als alle anderen in der
Umgebung empfunden, denn wo sonst wird man vom Bodensee begrüßt, wenn man aus
nördlichen Richtungen mit dem Zug ankommt ? Die wenigen Schritte vom Gleis 6
zur Uferpromenade waren mein erster Spaziergang in Radolfzell, und ich
bewunderte die schöne Treppe mit den drei Rampen. Sie erinnerte mich an der
Architektur der toskanischen Gärten, und die hell beleuchtete aber in der
Saison willkommen kühlere Unterführung bis zum Bahnhofsgebäude empfand ich an
jenem Augusttag als gute Lösung unter den gegebenen Umständen.
Ich wusste damals noch nicht,
dass es früher auch noch eine Brücke gab, die dann abgebaut wurde, als die
Unterführung fertig war.
Im Laufe der Jahre habe ich mehr
über die Geschichte dieser Stadt erfahren, die nach Turin und Würzburg für mich
und meine Familie die neue Heimat geworden ist.
Manchmal habe ich gedacht, dass
ich in meinen restlichen Lebensjahren als Rentner Besucher durch die Stadt
führen könnte und etwas über die Lokalgeschichte erzählen, und es würde sicher
nicht an Themen fehlen, vom Mittelalter bis zu den heutigen Tagen.
Ich würde möglicherweise
Stadtrundgang am Marktplatz anfangen, und am Bahnhof beenden. Nur, seit einem
Jahr ist dieser Gedanke getrübt: denn wenn das vom Gemeinderat befürwortete
Jahrhundertprojekt verwirklicht sein sollte, müsste ich an dieser Stelle wohl
mit einer unangenehmen Feststellung beginnen, etwas: „...und dann kamen die Barbaren“.
Bausünden wurden in den 60er
bis 70er Jahren in fast allen deutschen
Städte begangen, in blinder Folge einer falsch verstandenen „Modernisierung“.
Viele Schäden sind nicht mehr rückgängig zu machen, und manche hässlichen
Bauten von jenen Jahren werden womöglich als Mahnmale einer verfehlten und geschmacklosen Architektur
bleiben, als stumme Zeugen der Vergewaltigung von Lokaltradition. Wir brauchen jedoch nicht in jeder Stadt
eine Mehrzahl von solchen schlechten Beispielen. Und daher frage ich mich, wie
es zu der Idee kam, die bestehende Unterführung und den Radolfzeller Bahnhof
als Opfer einer Zerstörungswut zu missbrauchen, dabei die funktionelle und
lediglich Modernisierungsbedürftige Personenunterführung mit einer breiteren zu
ersetzen, die nach den veröffentlichten Plänen eher an Industrie- oder
Straßenbau erinnert, und schon die grundlegenden Prinzipien der
Architekturkunst verletzt.
Wohlbemerkt: die bestehende
Unterführung hat einen Querschnitt, der genau dem „Goldenen Schnitt“
entspricht, also in der tradition der Architektur seit der Antike steht.
Die neue Unterführung hätte eine
Öffnung von 2,50 m Höhe bei einer Breite von 8,50: die Wirkung ist optisch wie
eine Wunde in der Landschaft (man ist fast versucht, für eine Erklärung einer
solcher Begeistrung für diese Ansicht,
Freud zu bemühen).
Für diese aus ästhetischen
Gründen unmöglich zu rechtfertigende Variante, die sogar noch hyperbolisch als „Vorzugsvariante“
verkauft wird, wurden die skurrilsten Argumente vorgeschoben: „Stadtanbindung
an den See“, „Achse zum See“ einer Einkaufsmeile, die
angeblich ein am anderen Ende der Altstadt sich befindlichen „outlet“ ebenfalls
mit dem See verbinden sollte (als ob die Käufer vom See kämen, oder dort ihre
Einkäufe hineinwerfen sollten!). Manche wähnten sogar, dank dieser neuen
Unterführung den See vom Marktplatz sehen zu können!
Als alle diese Scheinargumente der Lächerlichkeit
preisgegeben wurden, fingen die Befürworter des Jahrhundertsprojekts die von
vielen gefördertern Modernisierung der bestehenden Unterführung als unmöglich
darzustellen. Aber auch die dazu verwendeten Argumente stellten sich bald aus
vollkommen unhaltbar heraus (in der Tat gibt es keinerlei anahltspunkt inder
Richtlinien der DB, die einer Modernisierung im Wege steht; die Breite der
Unterführung ist vollkommen ausreichend, wenn barrierenfreie Rampen an beiden
Enden vorhanden sind (und solche
existieren schon, man muss sie nur ausbauen). Was fehlt, sind die Aufzüge: aber
die lassen sich mit unvergleichbar geringerem Aufwand an der bestehenden
Unterführung anbringen.
Außerdem, werden von den
bestehenden sechs Gleisen lediglich nur vier bis zum Bahnhof benutzt
(Gleis 1 kann z.B. 50 m vor dem Bahnhof
aufhören, denn alle Züge dieses Gleises enden und starten in Radolfzell).
Gleis 2 ist stillgelegt, Gleis 3
wird von einem einzigen Zug am Tag benutzt, aber diesen kann man lassen, denn
schon mit der Entfernung von den beiden ersten Gleisen auf der Höhe des Bahnhofsgebäudes
kann man die bestehende Unterführung von den jetzigen 56 m auf 40 m
verkürzen. Dabei entsteht eine
interessante Möglichkeit, an der Stelle der zwei entfernten Gleise eine Halle
zu bauen, und zwar beginnend am Ende
der Treppe, die vom Bahnhofseingang hinunter zu der Unterführung führt.
Diesen Vorschlag habe ich
gezeichnet (Bild 1 ).
Durch die reduzierten Kosten für
die Modernisierung („Optimierte Bestandsvariante“/G.P.) statt
eines Neubaus einer unmöglichen „Vorzugsvariante“ bleiben erhebliche
finanzielle Mittel erspart, so dass damit auch eine Brücke gebaut werden
könnte.
Sie könnte auf der Höhe des
Busbahnhofs entstehen, vom Bahnsteig (3) bis Bahnsteig (6), mit drei Treppen
und drei Aufzügen, und an der Seeseite, auf der Brückenhöhe, könnte man auch
noch ein Café und eine Aussichtsterrasse bauen.
Die Brücke wäre nicht nur eine
schöne Modernisierung der Bahnanlage, und eine Erleichterung für die Reisenden;
sie wäre sozusagen die Rückgabe eines Stücks Stadtgeschichte an die
Radolfzeller, die Erinnerung an den historischen „Karrensteg“, auf dem die
Bauern ihr Gemüse aus der Halbinsel Höri zuerst mit Booten und dann mit Karren
über die damalige Brücke auf den Radolfzeller Markt brachten.
In der Zukunft würde die Brücke
eher den Touristen und den Radolfzellern dienen, die im Café oder auf der
Aussichtsterrasse den schönen Blick auf
den Untersee genießen dürften.
Es bleibt zu hoffen, dass bei dem
kommenden Bürgerentscheid die Vernunft siegen wird, und diese Gedanken Realität
werden können, und zwar mit erheblicher Verschonung der Stadtfinanzen, denn das
Ganze (Modernisierung und neue Brücke) dürfte weniger als die Hälfte der zu
verwerfenden „Vorzugsvariante“ kosten und wäre sicher realiseierbar in
unvergleichbarer kürzerer Zeit, risikolos
und praktisch ohne Beeinträchtigung der Reisenden.
Wenn es so sein wird, wird der
Stadtfürer den in dem Titel erwähnten Satz anders beenden können: „... und dann kamen die Barbaren ... aber
die Radolfzeller waren standfest und verteidigen ihre schöne Stadt und deren
Bahnhof“.
(Eine der vielen möglichen
Ausführungen der Brücke habe ich hier gezeichnet: Bild 2) .
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