Mittwoch, 10. August 2016

Postille in Sache „Seetorpassage“: Schluss mit einem sinnlosen Glaubenskrieg und hin zum vernünftigen Neudenken.

Leider muss man feststellen, dass die Debatte über diese an sich problemlose Baumaßnahme für viele zu einer Glaubensfrage geworden ist. Und man sollte doch wissen, mindestens seit dem Dreißigjährigen Krieg, dass es bei allen Glaubenskriegen nur Verlierer geben kann.
In der Tat, haben sich unter den Radolfzellern zwei Fraktionen gebildet, die ihre jeweilige Sichtweise als Glaubensfrage verstehen. Die Anhänger der einen Fraktion plädieren für den Bau der ihnen als „alternativlose Vorzugsvariante“  verkauften Planung eines breiten Tunnels unter der Schienen gleichzeitig  als Seepassage und als Zugang zu den Gleisen, ohne zu erkennen, dass gerade diese gemischte Benutzung das Problem darstellt, das man mit einem Neubau vermeiden wollte!
Und weil dies zu einer Glaubensfrage geworden ist, soll der Bau ohne Rücksicht auf Kosten und ohne weitere kritische Überprüfungen sofort geschehen,  „sonst verliert man Zeit“.
Es wurde sogar von jemand der Begriff „Missionare“ verwendet: dies passt wunderbar aber gerade zu denjenigen, die sich für die „Vorzugsvariante“ begeistern, und ohne fachliche oder nachprüfbare Argumente die irreführende Parole wiederholen, die sie blind geglaubt haben (wie aus deren fehlender Sachlichkeit leicht einzusehen ist), und nicht zugeben wollen, dass sie Opfer einer gezielten Täuschung waren und sind.   Für diese unvernünftige Haltung sind natürlich an erster Stelle viele Gemeinderäte und der OB mitverantwortlich, die diese Variante  leichtsinnig und ohne sachliche Gründe (um nicht zu sagen gegen besseres Wissen) als „alternativlos“ bezeichnet haben. Zur Stunde wissen wir, dass der OB endlich gemerkt hat, dass eine Entscheidung gegen die Mehrheit der Bürger  das Klima in der Stadt weiterhin vergiftet, abgesehen von den Kosten und Risiken dieses „Jahrhundertprojekts“.
Trotzdem gibt es immer noch eine Mehrheit von Gemeinderäten, die zwar in dieser Frage  nur die  Minderheit der Bürger repräsentieren, die aber beharrlich den unsinnigen Bau erzwingen wollen.
Bei den Gegnern dieser „Variante“  sind aber auch allzu viele, die zwar die enormen Kosten scheuen (mit recht, denn die bisher bekannten Rechnungen sind sicher nur ein Teil der Endkosten) aber ansonsten den Plan nur deswegen ablehnen, also inhaltlich  nicht in Frage stellen.   Leider ist also die Debatte so entgleist, dass niemand mehr sich die Frage stellt, ob es nicht doch andere Möglichkeiten gibt, schön, passend und günstiger, eine Seepassage zu bauen, und zwar UNABHÄNGIG von der jetzigen Bahnunterführung.
Man braucht nicht einmal fachliche Kompetenzen, um zu erkennen, dass praktisch alle anderen Möglichkeiten besser wären, als eine unansehnliche, weniger funktionell, und problembeladene Unterführung,  die zwar als „Vorzugsvariante“ von einem Planungsbüro der DB aggressiv als Wunderwerk dargestellt wurde, aber deren einziger Vorzug darin besteht, dass damit die DB die Kosten nicht selber tragen muss und von der Stadt einen neuen Bahnhof und Unterführung damit geschenkt bekommt.   
 Aber es geht  in diesem Fall auch noch um einen Angriff auf die Demokratie. Diese liefert zwar nie eine Garantie für vernünftige Entscheidungen. Außerhalb  der demokratischen Regeln sind aber alle Entscheidungen grundsätzlich falsch, denn die übergangene Mehrheit wird alles tun, um sich bei derselben oder – noch schlimmer – bei künftigen Gelegenheiten zu revanchieren und andere Projekte aus Prinzip ablehnen oder erschweren.
Das sehen wir schon jetzt in Radolfzell, wo bei allen wichtigen Neuprojekten ein vergiftetes Klima die absolut notwendige Bürgerkooperation mit den Entscheidungsträgern verhindert.
Selbst wenn die „Vorzugsvariante“ die beste Lösung wäre (und davon sind wir sehr weit entfernt !!), sie einer so geteilten Bürgerschaft, die dazu auch noch mehrheitlich dagegen ist, zu erzwingen wäre eine undemokratische Todsünde. Es ist also bei den Entscheidungsträgern eine Frage der Demokratie und der Verantwortung. 

Voraussetzung für richtige Entscheidungen ist eine unverfälschte Information über alle Fakten und Gegebenheiten, und die deutliche Zuordnung der zutreffenden Maßnahmen zu den damit beabsichtigten Zielen. In unserem Fall wurde keine einzige der o.g. Bedingungen erfüllt: Weder gab es eine rechtzeitige und korrekte Bürgerinformation, noch wurden die Ziele klar formuliert. Die Salami-Taktik bei der Kostenbekanntgabe wurde von irreführenden Angaben und 3D Darstellungen des Projekts begleitet, die ein ganz anderes Resultat vorzuzeigen versuchten, und es fehlten auch nicht gezielte Falschmeldungen wie die angebliche „nicht Genehmigungsfähigkeit“ von Alternativen.    
Was wünschten sich aber ALLE Radolfzeller? Nur zwei Sachen: 1) eine modernisierte und barrierefreie Bahnunterführung; 2) einen schöneren  Seezugang von der Altstadt. 
Hätten die Verantwortlichen diese zwei  Ziele getrennt verfolgt, wäre das erste der DB überlassen worden, denn gesetzlich ist sie auf eigene Kosten bis spätestens 2022 dazu verpflichtet.
Für den Seezugang hätte man die ganze Freiheit zwischen verschiedenen Optionen gehabt, wobei die Lösung mit einer noch so breiten Unterführung sofort als unpassend aufgefallen wäre, denn fachlich und architektonisch gesehen, bietet eine Unterführung am Seeufer nur Nachteile und Gefahren, sie ist lediglich eine Notlösung, einigermaßen annehmbar für Bahnreisende, aber unansehnlich als Fußgänger- Zugang zur Seepromenade.
Wäre man also mit getrennten Maßnahmen vorgegangen, hätten wir nach dem entsprechenden Architektenwettbewerb schon seit Jahren und ohne die bisherige schon unverhältnismäßige  Planungskosten  eine passende und von der überwiegenden Mehrheit der Radolfzeller angenommene Lösung, wahrscheinlich stünde sogar schon das Ergebnis da, und zu einem Bruchteil der jetzt angegeben Kosten, die höchstwahrscheinlich nur als Anzahlung zu verstehen sind.
Stattdessen hat man die Planungshoheit faktisch der DB überlassen. Ein finanziell nicht gerade gut bestelltes Unternehmen, das schon anderswo (Stuttgart 21) mit steigenden Kosten zu kämpfen hat, konnte sich in Radolfzell nicht die günstige Gelegenheit entgehen lassen, die eigenen Aufgaben elegant der Stadt aufzubürden.
Diese Rechnung ging jedoch nicht ganz auf: denn in Radolfzell gab es genügend gut informierte Bürger die nicht bereit waren, sich wie die Mehrheit ihrer Vertreter im Gemeinderat, über den Tisch ziehen zu lassen, und durch einen Bürgerentscheid beweisen konnte, was die Radolfzeller eindeutig NICHT wollen !
Man musste jedoch warten, bis die ganze Wahrheit ans Licht kam: gegen alle Versprechungen, die lediglich nur dazu dienten, die Gemeinderäte zur falschen Entscheidung zu verführen, gab endlich die DB zu, dass sie nie beabsichtigt hatte, sich an den Kosten zu beteiligen.
Der OB hat sofort die Brisanz der Sache erkannt und verantwortungsvoll die „Vorzugsvariante“  endgültig verworfen.  Die Reaktion der Mehrheit der Entscheidungsträger im Gemeinderat  lässt jedoch eine gewisse ... Trägheit in der Wahrnehmung der neuen Situation erkennen. Statt den Fehler zuzugeben und aus der Sackgasse wegzukommen, beteuerten die meisten, weiterhin die Fehlplanung weiter treiben zu wollen, die nur zu einer noch größeren Blamage  und bauliche wie finanzielle Katastrophe führen kann.  
Wenn ich nicht seit über 40 Jahren Bürger dieser schönen Stadt wäre, aus Schadenfreude würde ich mir fast wünschen, dass hier mit der „Vorzugsvariante“ das größte Mahnmal undemokratischer und verfehlten Kommunalpolitik entsteht.       
Aber als Radolfzeller hoffe ich immer noch auf ein Wunder, so dass diese Blamage unserer Stadt erspart bleibt.
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***  Eine Chronik dieses Projekts und alle fachliche Beweise und Argumente gegen die „Vorzugsvariante“, zuzüglich Alternativvorschläge, sind in der Broschüre „Radolfzells Zukunft liegt nicht unter den Gleisen“, die letztes Jahr in Zusammenarbeit mit Herrn Heinz-Jochen Baeuerle veröffentlicht habe.
Interessenten könne diese 40-seitige Broschüre bei mir anfordern  (graziano.priotto@uni-konstanz.de

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