Mittwoch, 22. Juli 2015

... und dann kamen die Barbaren !

 Plädoyer für eine behutsame Modernisierung des Bahnhofsareals in Radolfzell


Im August 1975 kam ich zum ersten Mal nach Radolfzell, die Stadt, wo ich seitdem wohne.
Zuerst als Student an der Konstanzer Universität, dann als Lehrer und dortiger Lehrbeauftragter benutzte ich täglich für die nächsten 30 Jahre den Zug zwischen Radolfzell und Konstanz. Den Radolfzeller Bahnhof habe ich immer schöner als alle anderen in der Umgebung empfunden, denn wo sonst wird man vom Bodensee begrüßt, wenn man aus nördlichen Richtungen mit dem Zug ankommt ? Die wenigen Schritte vom Gleis 6 zur Uferpromenade waren mein erster Spaziergang in Radolfzell, und ich bewunderte die schöne Treppe mit den drei Rampen. Sie erinnerte mich an der Architektur der toskanischen Gärten, und die hell beleuchtete aber in der Saison willkommen kühlere Unterführung bis zum Bahnhofsgebäude empfand ich an jenem Augusttag als gute Lösung unter den gegebenen Umständen.
Ich wusste damals noch nicht, dass es früher auch noch eine Brücke gab, die dann abgebaut wurde, als die Unterführung fertig war.
Im Laufe der Jahre habe ich mehr über die Geschichte dieser Stadt erfahren, die nach Turin und Würzburg für mich und meine Familie die neue Heimat geworden ist.  
Manchmal habe ich gedacht, dass ich in meinen restlichen Lebensjahren als Rentner Besucher durch die Stadt führen könnte und etwas über die Lokalgeschichte erzählen, und es würde sicher nicht an Themen fehlen, vom Mittelalter bis zu den heutigen Tagen.
Ich würde möglicherweise Stadtrundgang am Marktplatz anfangen, und am Bahnhof beenden. Nur, seit einem Jahr ist dieser Gedanke getrübt: denn wenn das vom Gemeinderat befürwortete Jahrhundertprojekt verwirklicht sein sollte, müsste ich an dieser Stelle wohl mit einer unangenehmen Feststellung beginnen, etwas:   „...und dann kamen die Barbaren“.

Bausünden wurden in den 60er bis  70er Jahren in fast allen deutschen Städte begangen, in blinder Folge einer falsch verstandenen „Modernisierung“. Viele Schäden sind nicht mehr rückgängig zu machen, und manche hässlichen Bauten von jenen Jahren werden womöglich als Mahnmale einer  verfehlten und geschmacklosen Architektur bleiben, als stumme Zeugen der Vergewaltigung von Lokaltradition.  Wir brauchen jedoch nicht in jeder Stadt eine Mehrzahl von solchen schlechten Beispielen. Und daher frage ich mich, wie es zu der Idee kam, die bestehende Unterführung und den Radolfzeller Bahnhof als Opfer einer Zerstörungswut zu missbrauchen, dabei die funktionelle und lediglich Modernisierungsbedürftige Personenunterführung mit einer breiteren zu ersetzen, die nach den veröffentlichten Plänen eher an Industrie- oder Straßenbau erinnert, und schon die grundlegenden Prinzipien der Architekturkunst verletzt.
Wohlbemerkt: die bestehende Unterführung hat einen Querschnitt, der genau dem „Goldenen Schnitt“ entspricht, also in der tradition der Architektur seit der Antike steht.
Die neue Unterführung hätte eine Öffnung von 2,50 m Höhe bei einer Breite von 8,50: die Wirkung ist optisch wie eine Wunde in der Landschaft (man ist fast versucht, für eine Erklärung einer solcher Begeistrung für diese Ansicht,  Freud zu bemühen).
Für diese aus ästhetischen Gründen unmöglich zu rechtfertigende Variante, die sogar noch hyperbolisch als „Vorzugsvariante“ verkauft wird, wurden die skurrilsten Argumente vorgeschoben: „Stadtanbindung an den See“, „Achse zum See“ einer Einkaufsmeile, die angeblich ein am anderen Ende der Altstadt sich befindlichen „outlet“ ebenfalls mit dem See verbinden sollte (als ob die Käufer vom See kämen, oder dort ihre Einkäufe hineinwerfen sollten!). Manche wähnten sogar, dank dieser neuen Unterführung den See vom Marktplatz sehen zu können! 
Als alle diese Scheinargumente der Lächerlichkeit preisgegeben wurden, fingen die Befürworter des Jahrhundertsprojekts die von vielen gefördertern Modernisierung der bestehenden Unterführung als unmöglich darzustellen. Aber auch die dazu verwendeten Argumente stellten sich bald aus vollkommen unhaltbar heraus (in der Tat gibt es keinerlei anahltspunkt inder Richtlinien der DB, die einer Modernisierung im Wege steht; die Breite der Unterführung ist vollkommen ausreichend, wenn barrierenfreie Rampen an beiden Enden vorhanden sind  (und solche existieren schon, man muss sie nur ausbauen). Was fehlt, sind die Aufzüge: aber die lassen sich mit unvergleichbar geringerem Aufwand an der bestehenden Unterführung anbringen.
Außerdem, werden von den bestehenden sechs Gleisen lediglich nur vier bis zum Bahnhof benutzt (Gleis 1 kann  z.B. 50 m vor dem Bahnhof aufhören, denn alle Züge dieses Gleises enden und starten in Radolfzell).
Gleis 2 ist stillgelegt, Gleis 3 wird von einem einzigen Zug am Tag benutzt, aber diesen kann man lassen, denn schon mit der Entfernung von den beiden ersten Gleisen auf der Höhe des Bahnhofsgebäudes kann man die bestehende Unterführung von den jetzigen 56 m auf 40 m verkürzen.  Dabei entsteht eine interessante Möglichkeit, an der Stelle der zwei entfernten Gleise eine Halle zu bauen, und zwar  beginnend am Ende der Treppe, die vom Bahnhofseingang hinunter zu der Unterführung führt.
Diesen Vorschlag habe ich gezeichnet (Bild 1 ).



Durch die reduzierten Kosten für die Modernisierung („Optimierte Bestandsvariante“/G.P.) statt eines Neubaus einer unmöglichen „Vorzugsvariante“ bleiben erhebliche finanzielle Mittel erspart, so dass damit auch eine Brücke gebaut werden könnte.
Sie könnte auf der Höhe des Busbahnhofs entstehen, vom Bahnsteig (3) bis Bahnsteig (6), mit drei Treppen und drei Aufzügen, und an der Seeseite, auf der Brückenhöhe, könnte man auch noch ein Café und eine Aussichtsterrasse bauen.
Die Brücke wäre nicht nur eine schöne Modernisierung der Bahnanlage, und eine Erleichterung für die Reisenden; sie wäre sozusagen die Rückgabe eines Stücks Stadtgeschichte an die Radolfzeller, die Erinnerung an den historischen „Karrensteg“, auf dem die Bauern ihr Gemüse aus der Halbinsel Höri zuerst mit Booten und dann mit Karren über die damalige Brücke auf den Radolfzeller Markt brachten.
In der Zukunft würde die Brücke eher den Touristen und den Radolfzellern dienen, die im Café oder auf der Aussichtsterrasse  den schönen Blick auf den Untersee genießen dürften.
Es bleibt zu hoffen, dass bei dem kommenden Bürgerentscheid die Vernunft siegen wird, und diese Gedanken Realität werden können, und zwar mit erheblicher Verschonung der Stadtfinanzen, denn das Ganze (Modernisierung und neue Brücke) dürfte weniger als die Hälfte der zu verwerfenden „Vorzugsvariante“ kosten und wäre sicher realiseierbar in unvergleichbarer kürzerer Zeit, risikolos  und praktisch ohne Beeinträchtigung der Reisenden.
Wenn es so sein wird, wird der Stadtfürer den in dem Titel erwähnten Satz anders beenden können:  „... und dann kamen die Barbaren ... aber die Radolfzeller waren standfest und verteidigen ihre schöne Stadt und deren Bahnhof“.
(Eine der vielen möglichen Ausführungen der Brücke habe ich hier gezeichnet: Bild 2) .
 




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