Die Europäische Union und die Illusion des Neoliberalismus.
Überlegungen nach einem Vortrag vom berühmten Ökonom Hans-Werner Sinn an der Universität Konstanz am 11.2.2019.
Professor Hans-Werner
Sinn ist nicht nur in Deutschland als
führender Ökonom, sondern Europa und-weltweit als einer der renommiertesten
Ökonomen bekannt. Seine Bücher lösen immer große Debatten aus, denn sie treffen
unweigerlich den Nerv der Zeit, mit kritischen Alternativerklärungen für
brennende Fragen, die deutliche Antworten von der politischen Ökonomie
verlangen, sei es die Klimapolitik, oder die Finanzkrise oder der Euro und die
Überschuldung mancher europäischer
Staaten (s. z.B.„Target-Falle“). Nicht ohne Grund hat die Wochenzeitschrift Die
Zeit ihn als „ökonomischer Seismograph der Republik“ zu Recht genannt.
Das Thema seines Vortrags in
Konstanz, in dem bis zum letzten Platz besetzen Audimax, war ebenfalls höchst aktuell: „Die
Bedeutung des Brexits für Deutschland und Europa“. Kurz
zusammengefasst, seine These und Empfehlung war: „Die Verantwortlichen der EU
sollten alles versuchen, um Großbritannien in der Union zu behalten“. Dies
selbst mit schmerzhaften Konzessionen, wie z.B. die Genehmigung einer
restriktiveren Politik bei der Migration innerhalb der EU, ganz konkret, indem die
Sozialleistungen (z.B. Kindergeld) zu Lasten der Abstammungsstaaten und nicht
der Aufnahmestaaten der Migranten zu erbringen wären. Begründet wurde diese
Behauptung mit der Feststellung, dass
bei den exit-polls des Referendums am 23. Juni 2016, entscheidend für
den Brexit hauptsächlich zwei Punkten waren: gleich nach dem
Unabhängigkeitswunsch (mit 45 % der Befragten), nannten nämlich 26 % der
Befragten die Angst vor einer Einwanderungswelle aus anderen EU Ländern in die
großzügigeren Sozialleistungen in Großbritannien.
Mit der Beschneidung der Sozialleistungen für Migranten
hatte aber Professor Sinn nichts anderes als der Vorschlag von einem gewissen Tony
Blair aufgegriffen, was erkennen lässt, dass dieses ein Bekenntnis zum
Neoliberalem Ökonomischen Modell ist, genau das, was für den politischen
Abstieg aller sozialdemokratischen Parteien in Europa verantwortlich ist, die
sich daran orientiert haben.
Zwar hat Professor Sinn genau
erkannt, wer nach einem Brexit (egal ob mit oder ohne Vertrag) als Gewinner hervorgehen
würde: nämlich diejenigen, die in allen deindustrialisierten und verarmten
Gebieten Großbritanniens für den Brexit mehrheitlich gewählt hatten.
Ebenfalls deutlich war auch die
Gebietsverteilung derjenigen, die lieber in der EU bleiben wollten und immer
noch möchten: diese sind eben die Gewinner aus der jetzigen Situation, die
Finanzwelt und die Dienstleistungsbereiche, der Handel und diejenigen die schon
jetzt aus der Digitalisierung profitieren, uns sich damit noch bessere Chancen
bei dem Verbleib in der EU versprechen. Über diese Argumentation, die Professor Sinn mit einer Fülle von Daten und gut nachvollziehbaren Überlegungen vortrug,
gibt es Nichts zu beanstanden.
Logischerweise hat er auch klar
gezeigt, dass ein Brexit wirtschaftlich für Deutschland mindestens so schwer zu
verkraften wäre, als womöglich für Großbritannien. Zwar hat er die größten
Schwierigkeiten in der Grenzproblematik mit Nordirland gut erkannt und als
schwer lösbar zweifellos dargestellt, aber darüber darf man vielleicht
bemerken, dass wenn die EU nicht so stur und mit der eindeutigen Absicht,
Großbritannien für den Brexit zu bestrafen, mit gutem Willen und ein wenig
Flexibilität die Verhandlungen geführt hätte, wäre es ein Leichtes gewesen, ein
einvernehmliches Abkommen mit Irland zu erreichen, um die Bewegungsfreiheit
zwischen Nordirland und Irland konfliktfrei zu ermöglichen.
Eine weitere Überlegung von Prof.
Sinn betraf die Veränderungen des Gleichgewichts innerhalb der EU infolge des
Brexits: die „Sperrklausel“ von 35 %, d.h. die Gruppierung von Ländern nach
deren Gewichtsverteilung innerhalb der EU, die aktuell nötig ist, um gemeinsame
Entscheidungen zu torpedieren, würde nach dem Brexit zugunsten der kleineren
Ländern verschoben, und könnte eindeutig
die Machtstellung Deutschlands und der anderen wenigen Ländern (Holland
z.B.), die aus der bisherigen Gestaltung der EU als Gewinner hervorgegangen
sind, und könnte deren Anstrengungen bremsen oder gar vereiteln, die
Sparpolitik weiterhin durchzusetzen, unter der die anderen Länder wie
Griechenland, Portugal, Spanien und Italien leiden.
Klarer hätte man nicht nenne
können, wer (wie alle wissen), das größte Interesse an der Beibehaltung
Großbritanniens in der Union hat: nämlich Deutschland. Und dies aus durchaus
verständlichen Gründen, denn wenn die Exporte nach Großbritannien ausbleiben
werden enorme Verluste für die deutsche Industrie prognostiziert.
In der Tat, scheint Professor Sinn
außerdem erkannt zu haben, dass die EU nach dem Brexit vor weiteren .... „Exit“
stehen wird, während ohne Brexit die Union noch Chancen hätte, ihre
Abwicklung, mindestens noch für einiger
Zeit, zu stoppen.
Aber gerade ein scharfsinniger
Ökonom wie Hans-Werner Sinn, der dazu auch die seltene Gabe hat, komplexe
Sachverhalte allgemein verständlich zu erklären, müsste wohl erkennen, dass
sowohl Politiker wie auch die Bevölkerung Großbritannien sich nicht wie
Griechenland der Arroganz und den
Erpressungen der EU Führer biegen werden. Die schikanöse und herrische
Verhandlungsführung der EU-Kommission hat vielmehr das Maß zu überlaufen
gebracht. Aber es ist und war auch
nicht anders zu erwarten, denn die politische Führung der EU steht und Fällt
mit der Durchsetzung des neoliberalen ökonomischen Modells.
Es bestätigt sich hier einmal mehr, dass der absolute Glauben an
die eigene ökonomische Modelle, die in der Theorie wunderbar funktionieren
(denn man füttert sie mit den Daten die geeignet sind, um die gewollten
Ergebnissen hervorzurufen), gleichzeitig den Verlust der Realitätswahrnehmung
bedeutet.
So versperren sich auch die
besten Ökonomen der Erkenntnis der wahren Probleme, und merken nicht mehr, dass
ab einem gewissen Punkt die Auflösungsdynamik von Fehlkonstruktionen NICHT mehr
mit den bisherigen Scheinlösungen gestoppt werden kann, denn sie alle
funktionieren lediglich auf Kosten des Wohlstandes der Arbeiter und
Kleinverdiener und zugunsten der Vermögenden. Damit ist aber auch kein Wachstum
zu erwarten und keine Senkung der Arbeitslosigkeit, sondern im Gegenteil
vergrößert sich lediglich die Kluft zwischen Arm und Reich.
Das wahre Problem der EU ist
nicht die Überschuldung mancher Länder, sondern die Arbeitslosigkeit als Folge
von fehlenden Investitionen, und diese wiederum sind auf die Sparpolitik
zurückzuführen, die die Kaufkraft enorm reduziert hat, ohne dabei die
Überschuldung zu reduzieren: im Gegenteil, in allen Mittelmeerländern ist die
Überschuldung trotz (oder wegen !) aller „Reformen“, die die EU-Trojka
erzwungen hat, immer weiter gewachsen.
Gerade jemand wie Professor Sinn, der sich ausführlich mit dem Scheitern des
Euros beschäftigt hat, kennt besser als jeder andere Ökonom seiner
Schulrichtung (Neoliberalismus), dass die ökonomische
Konstruktion der EU nicht nur fehlerhaft sondern ohne eine grundlegende Änderung nicht mehr zu retten
ist.
Statt der vergeblichen Versuche,
die Wirklichkeit den abstrakten ökonometrischen Modellen anzupassen, sollte man
eher umgekehrt verfahren, und die Probleme ohne Voreingenommenheit erkennen.
Professor Sinn hat dies in mehreren anderen Situationen mindestens versucht und hat
zur Klärung von sonst von den meisten Kollegen unbemerkte Sachverhalte
entscheidend beigetragen. Aber im Fall der EU Politik und im Hinblick auf die
ökonomischen Probleme, scheint er
entweder resigniert zu haben, oder sich damit zu begnügen, genauso wie alle
andere „Wunderärzte“ der EU, tiefe Wunden mit Pflaster heilen zu wollen.
Mindestens theoretisch, erkennt aber Professor Sinn das wahre
Problem der EU: am Ende des Vortrages und auf eine diesbezügliche Frage hat er
doch eindeutig bestätigt, dass manche Mittelmeerländer für ihre ökonomische
Entwicklung besser getan hätten, NICHT
der Eurozone beizutreten. Eine
Feststellung, die jeder nachvollziehen kann, denn 2007-2008 haben alle EU-Länder außerhalb der Euro-Zone
ohne große Probleme di Finanzkrise gut überstanden. Gleichzeitig und trotz
aller Rettungsschirme und ähnliche Maßnahmen (die zum Teil auch noch ein Bruch
mit den EU Verträgen darstellten !), stehen die Eurozone-Krisenländer
heutzutage immer noch schlimmer da, und wenn die nächste Krise kommen wird –
die Frage ist nicht mehr ob, sondern wann – wird es nicht mehr möglich sein,
diese EU Fehlkonstruktion zu retten.
Aber öffentlich für das Ende
dieses gescheiterten Euro-Experiments aufzutreten, scheint auch einem Ökonom
des Kalibers Hans-Werner Sinn noch zu gewagt. Dabei wäre es höchste Zeit, die
Sachen beim Name zu nennen: wenn diese Fehlkonstruktion nicht mehr zu ertragen
sein wird, erwartet die EU eine so schmerzhafte wie unvermeidliche
Zerreißprobe. Einen Vorgeschmack davon könnten schon die Wahlen des
EU-Parlaments im kommenden Frühjahr liefern.
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