Die Debatte um die „Seetorquerung“: Ein Radolfzeller Lehrstück für Gemeinderäte ?
The debate about the "Seetorquerung"(railroad underpass):
a Radolfzell's lesson for town councillors ?
Abstract
In the nice small town at the Lake of Constance where I live since 1975, about nine years ago the municipal administration decided that the railroad underpass which also connects the town to the lake promenade was not anymore adequate to the needs of the citizens and of the travellers. The first decision was to proof two options, a completely new railroad underpass or a modernization of the existing one. Unluckily the planning was entrusted to an architect's office at no cost cap. The result was, understandable, that in a first phase this office showed very similar costs for either the modernisation and the new construction. Then, after the town councilors mislead by this openly manipulated costs evaluation were pushed to choose the option for a new construction, the real costs were little by little shown, and now we have a final evaluation in which the costs have more than doubled.
Every sensible and responsible town administrators confronted with such cheap trick would send the planning office to the hell or even take it to the court and ask for refund for the lost time and money. It would be the only decision to take in order to protect the interests of citizens. Such sense of duty or courage seems unfortunately not to be available among the town councillors in Radolfzell, in fact quite the opposite is the case: the major and the town councillors were not ready to admit that they were badly cheated. They even decided to keep quiet and humble, bite the bullet, accept these costs and even tried to impose this absurd decision to their citizens, although the costs are by far not sustainable for the already strained town financial situation.
It looks like they have fully misinterpreted the will of their citizens: immediately a courageous initiative started to gather signature for a referendum to cancel the senseless decision.
This initiative is gathering great success and we hope that in the future Radolfzell will be generally known not only for the beauty of its location at Lake Constance, but also because of the democratic spirit of its citizens who rebel against decisions detrimental to their interests taken recklessly by its administrators.
In the nice small town at the Lake of Constance where I live since 1975, about nine years ago the municipal administration decided that the railroad underpass which also connects the town to the lake promenade was not anymore adequate to the needs of the citizens and of the travellers. The first decision was to proof two options, a completely new railroad underpass or a modernization of the existing one. Unluckily the planning was entrusted to an architect's office at no cost cap. The result was, understandable, that in a first phase this office showed very similar costs for either the modernisation and the new construction. Then, after the town councilors mislead by this openly manipulated costs evaluation were pushed to choose the option for a new construction, the real costs were little by little shown, and now we have a final evaluation in which the costs have more than doubled.
Every sensible and responsible town administrators confronted with such cheap trick would send the planning office to the hell or even take it to the court and ask for refund for the lost time and money. It would be the only decision to take in order to protect the interests of citizens. Such sense of duty or courage seems unfortunately not to be available among the town councillors in Radolfzell, in fact quite the opposite is the case: the major and the town councillors were not ready to admit that they were badly cheated. They even decided to keep quiet and humble, bite the bullet, accept these costs and even tried to impose this absurd decision to their citizens, although the costs are by far not sustainable for the already strained town financial situation.
It looks like they have fully misinterpreted the will of their citizens: immediately a courageous initiative started to gather signature for a referendum to cancel the senseless decision.
This initiative is gathering great success and we hope that in the future Radolfzell will be generally known not only for the beauty of its location at Lake Constance, but also because of the democratic spirit of its citizens who rebel against decisions detrimental to their interests taken recklessly by its administrators.
Die Debatte um die „Seetorquerung“: Ein Radolfzeller Lehrstück für Gemeinderäte ?
Die Posse im Gemeinderat um die Durchsetzung eines Jahrhundertprojekts ohne Rücksicht auf Verluste, wie es jetzt bei der „Seetorquerung“ geschieht, könnte tatsächlich als das negative Paradebeispiel in die Lehrbücher der Kommunalpolitik eingehen, als Warnung für alle künftigen Gemeinderäte und Bürgermeister bundesweit.
Wie in allen größeren und kleineren Tragödien, als die Kette von Fehlentscheidungen, die oft mit gutem Gewissen und mit den besten Absichten (aber aufgrund von mangelden oder irreführenden Informationen getroffen wurden) unhaltbar wird, suchen die Verantwortlichen die Flucht nach vorne, indem sie die letzten Schritte beschleunigen und auf Entscheidungen drängen. Dies in der vergeblichen Hoffnung, damit die Probleme aus der Welt zu schaffen, die dagegen gerade dadurch unlösbar werden und eben die schmerzhaften Folgen unumkehrbar machen.
In diesem konkreten Beispiel wurden viele Fehler begangen, aber man hätte sie noch rechtzeitig erkennen und korrigieren können, wenn von Beginn an klare Ziele vorhanden gewesen wären. Neun Jahren sind dagegen vergeblich verstrichen, und als einziges Resultat haben wir eine in der Meinung geteilte Bürgerschaft und ein Monstrum von Projekt, das für längere Zeit die gesamten Stadtfinanzen fressen wird, wenn nicht noch Schlimmeres passiert und Radolfzell auch das Silber verkaufen muss, um das Projekt mehr schlecht als recht zu Ende zu führen.
Was am Anfang die Modernisierung einer immerhin seit einem halben Jahhundert gut funktionierenden Bahnhofsunterführung als Ziel galt, wurde leichtsinnig der Fantasie von Planern ohne Kostenlimit ausgeliefert, und hier bekommt man den Eindruck, dass viele Entscheidungsträger nicht wissen, dass wir im Kapitalismus leben, oder ihn nicht verstehen: in diesem System muss jeder legitimerweise den höchsten Profit verfolgen, seien es Projektleiter oder ausführende Bauunternehmer, denn nur so können sie wirtschaftlich überleben. Dieses grundsätzliches Mißverständnis der ökonomischen Verhältnisse hat in Radolfzell lange Tradition: vor vielen Jahren hatten die Stadtverwalter die Hälfte der Stadtwerke an einer Privatfirma verkauft, mit der Begründung, dass dadurch der Stadt Kosten erspart würden: schon damals hatte man also Privatinvestoren mit Wohltätigkeitsvereinen verwechselt.
Es bedarf aber im jetzigen Fall keiner technischen Kenntnisse, um zu verstehen, was jeder private Bauherr weiß, nämlich dass kein Auftrag ohne genaue festgelegte Maximalkosten vergeben werden darf, denn ansonsten passiert genau das, was wir jetzt am Beispiel der „Seetorquerung“ sehen. Bei den öffentlichen Aufträgen scheint aber diese Vorsichtsmaßnahme vergessen zu sein, denn leider ist die Kostenexplosion und die Fertigstellungsverzögerung fast zur unrühmlichen Regel geworden (der Flughafen in Berlin oder die Philharmonie in Hamburg sind dabei nur die bekanntesten Beispiele aber leider keine Ausnahmen). Wenn man die Begründungen der Befürworter der mit Marketingsgedanken als „Vorzugsvariante“ umgetauften Baumaßnahme liest, kann der Eindruck nicht unterbleiben, dass dabei eine starke Hilflosigkeit herrschen muss, denn sie nehmen nicht einmal mehr wahr, wie lächerlich und grotesk ihre Argumente sind. So gibt ein Projektleiter als Ziel vor, „die Stadt näher an den See zu rücken“ (1), ein Unternehmen, das ohne einem gewaltigen Erdbeben schwer zu realisieren sein dürfte !
Lustig waren auch schon die Gründe der Aktionsgemeinschaft (im Wesentlichen die Vertreter des Einzelhandels) , die ohne „Seeanbindung“ um ihre Kundschaft fürchten (2). Es ist schwer zu glauben, und jedenfalls wurde noch nicht beobachtet, dass Horden von Käufern aus dem See wie eine Art menschlicher Tsunami kommen, und eine doppelte Breite der Unterführung notwendig machen. Es sei denn, man plant gleichzeitig eine Fährverbindung zur Höri und in die Schweiz, wobei natürlich zunächst ein Hafen notwendig wäre.
Ein Fraktionsvorsitzender weckt sogar historische Erinnerungen auf, denn er spricht von der„Entwicklung dies-und jenseits der Bahnlinie“, als ob diese ein eiserner Vorhang wäre, der die Stadt unüberwindlich teilt. Wir wissen nicht, ob er damit auch an einer Fähre denkt, aber er hat vielleicht ohne es zu wollen ganz Recht wenn er sagt: „Die Voraussetzung für viele weitere Projekte ist und bleibt die Seetorquerung“ (3): in der Tat, alles steht und fällt damit, denn wenn dieses Monstrumprojekt die Stadtfinanzen total verschluckt, sind alle übrigen Projekte erledigt.
Die Krönung dieser Argumenten liefert jedenfalls der OB: „Neun Jahre der Planung mit zig Gemeinderatsentscheidungen können nicht falsch sein“ (4). Eine sehr interessante neue Theorie der Logik, sie erinnert an die verunglückten Bergsteiger die sagten: „Wir sind schon so lange in dieser Richtung gelaufen, wir können nicht geirrt haben“, und kurz danach fielen sie in die Schlucht. Dass eine Mehrheit der Bevöklerung sich für die „Vorzugsvariante“ bei der Bürgerbefragung geäußert haben soll, ist wiederum eine grobe Verwechslung und willkürliche Interpretation von Tatsachen: ein Jahr lang hat man im Rathaus versucht, das Projekt „zu verkaufen“, mit Versprechungen über eine Kostendeckelung, die prompt vergessen wurde, als die wahre Kostenberechnungen nicht mehr zu verbergen waren.
Mit zwei großen Veranstaltungen im Milchwerk und kontinuierlichen Veröffentlichungen in dem Amtsblatt „Hallo Radolfzell“ wurde die Alternativlosigkeit des Projekts beschworen. Alles jedoch umsonst: Wenn diese eine Verkaufskampanie für ein beliebiges Produkt gewesen wäre,müssten die Verantwortlichen zugeben, dass ein Ergebnis von knapp 50 % eine bittere Schlappe war. Kein Unternehmer würde solche Werbeagenten nochmals beauftragen.
Wenn man die detaillierten Daten der Bürgerbefragung genau liest, sieht man außerdem sofort, dass hier etwas anderes herausgefunden wurde als die Mehrheit für die „Vorzugsvariante“: das wichtige Ergebnis ist lediglich die bescheidene Wirkung der Propaganda, die sehr deutlich den großen Umfang an Desinformation belegt. Dies wiederum haben die Kommunalpolitiker zu verantworten. Bei einer Meinungsforschung müssen nämlich Alternativen deutlich genannt werden. Keine seriöse Untersuchung kann eine der beiden Möglichkeiten verschweigen, und dann behaupten, die Befragten hätten sich für die andere entschieden !
Von diesem Betrachtungspunkt ist die Befragung leider nicht das Papier wert, worauf sie geschrieben wurde. Das Allensbacher Institut hätte in besseren Zeiten diesen Auftrag wahrscheinlich so nicht angenommen, aber hat jedenfalls geschickt die Wertlosigkeit der Ergebnisse für die Kenner der Materie deutlich dargestellt, und sich aus dem Missbrauch der Interpretationen distanziert. Klar ist, dass kein ernshafter Soziologe aufgrund dieser Befragung behaupten würde, die Mehrheit der Radolfzeller hätten die „Vorzugsvariante“ befürwortet. Da aber der Auftrag bewußt darauf zielte, irgendwie eine brauchbare Zahl zu liefern, wurde das Ziel erreicht, wenn auch, abgesehen von aller methodischen Fragwürdigkeiten, mit einer lächerlichen „Mehrheit“.
Bemerkenswert ist hier wiederum der Missbrauch des Begriffs „Demokratie“: von dieser großen Idee scheint bei manchen Entscheidungsträgern nur noch ein „arithmetisches Skelett“ geblieben zu sein. Zwar ist dies genau das, was in der Bundespolitik und in allen Staaten dieser Welt seit jeher praktiziert wird, wo eben die Regierbarkeit über die Parteimacht aufrechterhalten wird, und die Parteinteressen zwangsläufig vor allen anderen Interessen den Vorrang haben, wo also eine Stimme mehr für die Mehrheitsbildung genügt.
Diese Sichtweise ist zwar leider notwendig, wenngleich sehr problematisch auch schon in der Bundes- oder Landespolitik, aber sie ist total fehl am Platz und vernichtend auf der kommunalen Ebene. Hier geht es nämlich um direkte, lokale und allgemeine Interessen, und dementsprechend dürfen alle Entscheidungen nur auf der Basis von sehr breiten Mehrheiten getroffen werden.
Dazu gehört ebenfalls der Respekt der Minderheiten. Die Kunst der guten und demokratischen Lokalpolitik ist nämlich die stetige und mühsame Suche von Kompromissen, die den meisten Meinungen und Interessen Rechnung tragen, also eine hohe Konsensbildung ist die erste Bürgermeisterpflicht.
Nichts dergleichen sehen wir dagegen in Radolfzell: auf Gedeih und Verderb werden Teilinteressen (z.B. Einzelhändler) kurz als Gemeinwohl deklariert, Planer werden auf die Bürger losgelassen, damit sie Überzeugunsarbeit leisten (ich sage nicht Propaganda aber wir sind nicht weit davon entfernt) und helfen, die Entscheidung der Kommunalpolitiker durchzusetzen. Dabei scheint alles erlaubt zu sein: Scheinargumente zu erfinden, Kosten mit der Salami-Taktik nur schrittweise bekannt zu geben, und zu predigen und zu drohen, dass die Zukunft der Stadt allein von dieser Geldvergrabungsstelle abhängt.
Metaphorisch bieten und loben diese eifrigen Helfer (in eigener Sache) also ihr überteuertes Projekt genauso, wie in dem bekannten Märchen die Pagen die neuen Kleider des Kaisers trugen und bewunderten.
Aber früher oder später wird auch hier deutlich, dass der Kaiser nackt ist: nicht ein Kind wird diese Wahrheit schreien, aber es werden die Bürger sein, die duch einen Bürgerentscheid die Stadträte wachrufen.
Schlußwort
Weil es hier nicht lediglich um Kritik sondern um einem konstruktiven Beitrag handelt, bleibt die letzte aber wichtigste Frage: Ist das Projekt, auch abgesehen von den horrenden Kosten, überhaupt eine Bereicherung für Radolfzell?
Statt „Vorzugsvariante“ müßte man diesen Projekt „Begrabung einer Unterführung um einen überteuerten Neubau daneben zu rechtfertigen“ nennen.
Keine der bisher vorgetragenen Argumente der Befürworter dieses Schwabenstreichs halten auch nur einen Augeblick einer fachmännisch-kritischen Prüfung stand, und es kann auch nicht anders sein, denn die echten Ziele sind nämlich nicht die vorgeschobenen Argumente („Seeanbindung“, „Seezugang“, „Seesicht“, „Seeachse“ und ähnliche lächerliche Noterklärungen).
Das oberste Ziel, was alles andere bedingt und nicht mehr hinter Umschreibungen zu verbergen ist, ist die „Begrabung“ (im materiellen und im übertragenen Sinn), der „Bestandsvariante“, also die Modernisierung der Unterführung und des Bahnhofsareals, denn dabei wären die Kosten zu gering und vor allem, man wäre nicht gezwungen, Stadteigentum (Grundstücke) zu veräußern, was letzen Endes das Interesse der Befürworter als Investoren bewegt. Alle Ungereimtheiten und Mängel der „Vorzugsvariante“ hier aufzulisten würde zu viel Platz in Anspruch nehmen, ich werde dies in einem separaten Bericht genau erläutern.
Es genügt hier zunächst die Grundfrage zu beantworten, und diese lautet: brauchen die Radolfzeller, als Bürger und Bahnbenutzer, diese Baumaßnahme wie jetzt geplant ?
Die Antwort ist klar: die Vorzugsvariante ist so nötig wie ein Kropf (und vom Aussehen ebenfalls nicht viel schöner). Die Interessen der Bürger sind nicht im Einklang mit solchen Vorhaben, denn für die Stadt und deren Entwicklung sind keineswegs kurzfristige und teure Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wie dieses Jahrhundertprojekt geeignet, sondern alle anderen nachhaltigen Erweiterungen und Ergänzungen der Infrastruktur, für die Bildung (Schulen, Ausbildungsstätte, für die örtlichen Einrichtungen wie die Kur, für Sport- und Freizeitsangebote (Hallenbad z.B.), die auch finanziell etwas für die Stadtfinanzen bringen.
Es sei denn, man beabsichtigt Eintrittsgelder für die Besichtigung des „Wunders von Radolfzell“ (dann könnte man ebenfalls die bestehende Bahnunterführung für die Besichtigung anbieten, statt sie zu vergraben, es wäre außerdem eine Hilfe in der Not jedesmal wenn das Hochwasser die „Vorzugsvariante“ überschwemmt).
Die Posse im Gemeinderat um die Durchsetzung eines Jahrhundertprojekts ohne Rücksicht auf Verluste, wie es jetzt bei der „Seetorquerung“ geschieht, könnte tatsächlich als das negative Paradebeispiel in die Lehrbücher der Kommunalpolitik eingehen, als Warnung für alle künftigen Gemeinderäte und Bürgermeister bundesweit.
Wie in allen größeren und kleineren Tragödien, als die Kette von Fehlentscheidungen, die oft mit gutem Gewissen und mit den besten Absichten (aber aufgrund von mangelden oder irreführenden Informationen getroffen wurden) unhaltbar wird, suchen die Verantwortlichen die Flucht nach vorne, indem sie die letzten Schritte beschleunigen und auf Entscheidungen drängen. Dies in der vergeblichen Hoffnung, damit die Probleme aus der Welt zu schaffen, die dagegen gerade dadurch unlösbar werden und eben die schmerzhaften Folgen unumkehrbar machen.
In diesem konkreten Beispiel wurden viele Fehler begangen, aber man hätte sie noch rechtzeitig erkennen und korrigieren können, wenn von Beginn an klare Ziele vorhanden gewesen wären. Neun Jahren sind dagegen vergeblich verstrichen, und als einziges Resultat haben wir eine in der Meinung geteilte Bürgerschaft und ein Monstrum von Projekt, das für längere Zeit die gesamten Stadtfinanzen fressen wird, wenn nicht noch Schlimmeres passiert und Radolfzell auch das Silber verkaufen muss, um das Projekt mehr schlecht als recht zu Ende zu führen.
Was am Anfang die Modernisierung einer immerhin seit einem halben Jahhundert gut funktionierenden Bahnhofsunterführung als Ziel galt, wurde leichtsinnig der Fantasie von Planern ohne Kostenlimit ausgeliefert, und hier bekommt man den Eindruck, dass viele Entscheidungsträger nicht wissen, dass wir im Kapitalismus leben, oder ihn nicht verstehen: in diesem System muss jeder legitimerweise den höchsten Profit verfolgen, seien es Projektleiter oder ausführende Bauunternehmer, denn nur so können sie wirtschaftlich überleben. Dieses grundsätzliches Mißverständnis der ökonomischen Verhältnisse hat in Radolfzell lange Tradition: vor vielen Jahren hatten die Stadtverwalter die Hälfte der Stadtwerke an einer Privatfirma verkauft, mit der Begründung, dass dadurch der Stadt Kosten erspart würden: schon damals hatte man also Privatinvestoren mit Wohltätigkeitsvereinen verwechselt.
Es bedarf aber im jetzigen Fall keiner technischen Kenntnisse, um zu verstehen, was jeder private Bauherr weiß, nämlich dass kein Auftrag ohne genaue festgelegte Maximalkosten vergeben werden darf, denn ansonsten passiert genau das, was wir jetzt am Beispiel der „Seetorquerung“ sehen. Bei den öffentlichen Aufträgen scheint aber diese Vorsichtsmaßnahme vergessen zu sein, denn leider ist die Kostenexplosion und die Fertigstellungsverzögerung fast zur unrühmlichen Regel geworden (der Flughafen in Berlin oder die Philharmonie in Hamburg sind dabei nur die bekanntesten Beispiele aber leider keine Ausnahmen). Wenn man die Begründungen der Befürworter der mit Marketingsgedanken als „Vorzugsvariante“ umgetauften Baumaßnahme liest, kann der Eindruck nicht unterbleiben, dass dabei eine starke Hilflosigkeit herrschen muss, denn sie nehmen nicht einmal mehr wahr, wie lächerlich und grotesk ihre Argumente sind. So gibt ein Projektleiter als Ziel vor, „die Stadt näher an den See zu rücken“ (1), ein Unternehmen, das ohne einem gewaltigen Erdbeben schwer zu realisieren sein dürfte !
Lustig waren auch schon die Gründe der Aktionsgemeinschaft (im Wesentlichen die Vertreter des Einzelhandels) , die ohne „Seeanbindung“ um ihre Kundschaft fürchten (2). Es ist schwer zu glauben, und jedenfalls wurde noch nicht beobachtet, dass Horden von Käufern aus dem See wie eine Art menschlicher Tsunami kommen, und eine doppelte Breite der Unterführung notwendig machen. Es sei denn, man plant gleichzeitig eine Fährverbindung zur Höri und in die Schweiz, wobei natürlich zunächst ein Hafen notwendig wäre.
Ein Fraktionsvorsitzender weckt sogar historische Erinnerungen auf, denn er spricht von der„Entwicklung dies-und jenseits der Bahnlinie“, als ob diese ein eiserner Vorhang wäre, der die Stadt unüberwindlich teilt. Wir wissen nicht, ob er damit auch an einer Fähre denkt, aber er hat vielleicht ohne es zu wollen ganz Recht wenn er sagt: „Die Voraussetzung für viele weitere Projekte ist und bleibt die Seetorquerung“ (3): in der Tat, alles steht und fällt damit, denn wenn dieses Monstrumprojekt die Stadtfinanzen total verschluckt, sind alle übrigen Projekte erledigt.
Die Krönung dieser Argumenten liefert jedenfalls der OB: „Neun Jahre der Planung mit zig Gemeinderatsentscheidungen können nicht falsch sein“ (4). Eine sehr interessante neue Theorie der Logik, sie erinnert an die verunglückten Bergsteiger die sagten: „Wir sind schon so lange in dieser Richtung gelaufen, wir können nicht geirrt haben“, und kurz danach fielen sie in die Schlucht. Dass eine Mehrheit der Bevöklerung sich für die „Vorzugsvariante“ bei der Bürgerbefragung geäußert haben soll, ist wiederum eine grobe Verwechslung und willkürliche Interpretation von Tatsachen: ein Jahr lang hat man im Rathaus versucht, das Projekt „zu verkaufen“, mit Versprechungen über eine Kostendeckelung, die prompt vergessen wurde, als die wahre Kostenberechnungen nicht mehr zu verbergen waren.
Mit zwei großen Veranstaltungen im Milchwerk und kontinuierlichen Veröffentlichungen in dem Amtsblatt „Hallo Radolfzell“ wurde die Alternativlosigkeit des Projekts beschworen. Alles jedoch umsonst: Wenn diese eine Verkaufskampanie für ein beliebiges Produkt gewesen wäre,müssten die Verantwortlichen zugeben, dass ein Ergebnis von knapp 50 % eine bittere Schlappe war. Kein Unternehmer würde solche Werbeagenten nochmals beauftragen.
Wenn man die detaillierten Daten der Bürgerbefragung genau liest, sieht man außerdem sofort, dass hier etwas anderes herausgefunden wurde als die Mehrheit für die „Vorzugsvariante“: das wichtige Ergebnis ist lediglich die bescheidene Wirkung der Propaganda, die sehr deutlich den großen Umfang an Desinformation belegt. Dies wiederum haben die Kommunalpolitiker zu verantworten. Bei einer Meinungsforschung müssen nämlich Alternativen deutlich genannt werden. Keine seriöse Untersuchung kann eine der beiden Möglichkeiten verschweigen, und dann behaupten, die Befragten hätten sich für die andere entschieden !
Von diesem Betrachtungspunkt ist die Befragung leider nicht das Papier wert, worauf sie geschrieben wurde. Das Allensbacher Institut hätte in besseren Zeiten diesen Auftrag wahrscheinlich so nicht angenommen, aber hat jedenfalls geschickt die Wertlosigkeit der Ergebnisse für die Kenner der Materie deutlich dargestellt, und sich aus dem Missbrauch der Interpretationen distanziert. Klar ist, dass kein ernshafter Soziologe aufgrund dieser Befragung behaupten würde, die Mehrheit der Radolfzeller hätten die „Vorzugsvariante“ befürwortet. Da aber der Auftrag bewußt darauf zielte, irgendwie eine brauchbare Zahl zu liefern, wurde das Ziel erreicht, wenn auch, abgesehen von aller methodischen Fragwürdigkeiten, mit einer lächerlichen „Mehrheit“.
Bemerkenswert ist hier wiederum der Missbrauch des Begriffs „Demokratie“: von dieser großen Idee scheint bei manchen Entscheidungsträgern nur noch ein „arithmetisches Skelett“ geblieben zu sein. Zwar ist dies genau das, was in der Bundespolitik und in allen Staaten dieser Welt seit jeher praktiziert wird, wo eben die Regierbarkeit über die Parteimacht aufrechterhalten wird, und die Parteinteressen zwangsläufig vor allen anderen Interessen den Vorrang haben, wo also eine Stimme mehr für die Mehrheitsbildung genügt.
Diese Sichtweise ist zwar leider notwendig, wenngleich sehr problematisch auch schon in der Bundes- oder Landespolitik, aber sie ist total fehl am Platz und vernichtend auf der kommunalen Ebene. Hier geht es nämlich um direkte, lokale und allgemeine Interessen, und dementsprechend dürfen alle Entscheidungen nur auf der Basis von sehr breiten Mehrheiten getroffen werden.
Dazu gehört ebenfalls der Respekt der Minderheiten. Die Kunst der guten und demokratischen Lokalpolitik ist nämlich die stetige und mühsame Suche von Kompromissen, die den meisten Meinungen und Interessen Rechnung tragen, also eine hohe Konsensbildung ist die erste Bürgermeisterpflicht.
Nichts dergleichen sehen wir dagegen in Radolfzell: auf Gedeih und Verderb werden Teilinteressen (z.B. Einzelhändler) kurz als Gemeinwohl deklariert, Planer werden auf die Bürger losgelassen, damit sie Überzeugunsarbeit leisten (ich sage nicht Propaganda aber wir sind nicht weit davon entfernt) und helfen, die Entscheidung der Kommunalpolitiker durchzusetzen. Dabei scheint alles erlaubt zu sein: Scheinargumente zu erfinden, Kosten mit der Salami-Taktik nur schrittweise bekannt zu geben, und zu predigen und zu drohen, dass die Zukunft der Stadt allein von dieser Geldvergrabungsstelle abhängt.
Metaphorisch bieten und loben diese eifrigen Helfer (in eigener Sache) also ihr überteuertes Projekt genauso, wie in dem bekannten Märchen die Pagen die neuen Kleider des Kaisers trugen und bewunderten.
Aber früher oder später wird auch hier deutlich, dass der Kaiser nackt ist: nicht ein Kind wird diese Wahrheit schreien, aber es werden die Bürger sein, die duch einen Bürgerentscheid die Stadträte wachrufen.
Schlußwort
Weil es hier nicht lediglich um Kritik sondern um einem konstruktiven Beitrag handelt, bleibt die letzte aber wichtigste Frage: Ist das Projekt, auch abgesehen von den horrenden Kosten, überhaupt eine Bereicherung für Radolfzell?
Statt „Vorzugsvariante“ müßte man diesen Projekt „Begrabung einer Unterführung um einen überteuerten Neubau daneben zu rechtfertigen“ nennen.
Keine der bisher vorgetragenen Argumente der Befürworter dieses Schwabenstreichs halten auch nur einen Augeblick einer fachmännisch-kritischen Prüfung stand, und es kann auch nicht anders sein, denn die echten Ziele sind nämlich nicht die vorgeschobenen Argumente („Seeanbindung“, „Seezugang“, „Seesicht“, „Seeachse“ und ähnliche lächerliche Noterklärungen).
Das oberste Ziel, was alles andere bedingt und nicht mehr hinter Umschreibungen zu verbergen ist, ist die „Begrabung“ (im materiellen und im übertragenen Sinn), der „Bestandsvariante“, also die Modernisierung der Unterführung und des Bahnhofsareals, denn dabei wären die Kosten zu gering und vor allem, man wäre nicht gezwungen, Stadteigentum (Grundstücke) zu veräußern, was letzen Endes das Interesse der Befürworter als Investoren bewegt. Alle Ungereimtheiten und Mängel der „Vorzugsvariante“ hier aufzulisten würde zu viel Platz in Anspruch nehmen, ich werde dies in einem separaten Bericht genau erläutern.
Es genügt hier zunächst die Grundfrage zu beantworten, und diese lautet: brauchen die Radolfzeller, als Bürger und Bahnbenutzer, diese Baumaßnahme wie jetzt geplant ?
Die Antwort ist klar: die Vorzugsvariante ist so nötig wie ein Kropf (und vom Aussehen ebenfalls nicht viel schöner). Die Interessen der Bürger sind nicht im Einklang mit solchen Vorhaben, denn für die Stadt und deren Entwicklung sind keineswegs kurzfristige und teure Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wie dieses Jahrhundertprojekt geeignet, sondern alle anderen nachhaltigen Erweiterungen und Ergänzungen der Infrastruktur, für die Bildung (Schulen, Ausbildungsstätte, für die örtlichen Einrichtungen wie die Kur, für Sport- und Freizeitsangebote (Hallenbad z.B.), die auch finanziell etwas für die Stadtfinanzen bringen.
Es sei denn, man beabsichtigt Eintrittsgelder für die Besichtigung des „Wunders von Radolfzell“ (dann könnte man ebenfalls die bestehende Bahnunterführung für die Besichtigung anbieten, statt sie zu vergraben, es wäre außerdem eine Hilfe in der Not jedesmal wenn das Hochwasser die „Vorzugsvariante“ überschwemmt).
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